18. Mai 2020

Braucht es eine Geschlechtertrennung, um Geschlechterstereotype in Frage zu stellen?

Ein Bericht aus Peru von unserem Einkäufer Santiago

Das Thema um Geschlechterstereotype ist sicherlich nicht neu – schon gar nicht in Deutschland. Und ganz bestimmt hat es wenig oder gar nichts mit der Corona-Krise zu tun. Oder etwa doch?

Am Beispiel von dem südamerikanischen Land Peru zeigt sich jedoch, wie eine so furchtbare Krise wie die Corona-Pandemie absurderweise zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen kann – wenn zunächst auch nur kurzfristig.

Bereits in der Weltgeschichte hat sich oft gezeigt, dass Krisen unter Umständen gar zu Revolutionen führen konnten, die trotz großer Verluste nachhaltige Veränderungen mit sich bringen und Gesellschaft zum Positiven hin veränderten. Diese Sichtweise findet sich ebenso in der Psychotherapie wieder. „In jeder Krise steckt auch etwas Gutes“ ist ein nicht selten ausgesprochener Satz von Psychotherapeuten, der auf den Ratsuchenden in einer Lebenskrise hoffnungsschöpfend wirken soll. Gemeint ist damit die Kraft zur Veränderung. Ressourcen, die in jedem von uns stecken, um Dinge in Gang zu setzen, die einen Ausweg aus einer persönlichen Krise herbeiführen mögen.

Welche Ressourcen, welche Lösungswege werden also in Peru durch die Corona-Krise zurzeit freigesetzt, die Geschlechterstereotype geradezu vernichten und somit nachhaltig vielleicht zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen könnten?

Um die Ansteckungsrate innerhalb der Bevölkerung zu minimieren, überlegen sich gegenwärtig nahezu alle Länder verschiedene Herangehensweisen. Die peruanische Regierung zum Beispiel setzte eine Maßnahme in Kraft, die es Frauen und Männern verbietet, sich zeitgleich außerhalb des Haushaltes aufzuhalten. Praktisch heißt das: Ausgangssperren nach Geschlecht. An den Dienstagen, Donnerstagen und Samstagen dürfen ausschließlich Menschen weiblichen Geschlechtes das Haus verlassen, um einzukaufen oder ihrer Arbeit – soweit systemrelevant – nachzugehen. Montag, Mittwoch und Freitag sind den Männern vorbehalten. An Sonntagen ist der Ausgang für alle verboten.

Ingwer aus Peru

Ich fand diese Maßnahme zunächst irgendwie belustigend. Und mir war nicht sofort ersichtlich, warum und wie eine solche Aufteilung zur Reduzierung der Ansteckungsrate beitragen kann – bis ich ein Telefonat mit einem unserer Ingwerlieferanten hatte und dieser mir den Grundgedanken dieser Idee sehr kurz und einfach, aber doch einleuchtend erläutert hat: „ Nosotros somos muy enamorados“, was so viel bedeutet wie „Wir sind hier sehr verliebt“. Ausgangsbeschränkungen, wie sie beispielsweise in Deutschland praktiziert werden, haben in Peru nicht funktioniert. Zu viele Paare, Verlobte und Verliebte haben sich weiterhin außerhalb ihres Hauses getroffen, ohne die Distanzregeln einzuhalten. Dazu muss man wissen, dass peruanische Paare für gewöhnlich vor ihrer Heirat nicht in einem Haushalt zusammenleben und sich in der Regel auf öffentlichen Plätzen verabreden. Die Regierung geht davon aus, dass die geschlechtergetrennte Ausgangsregeln nun zu weitaus weniger engen körperlichen Kontakten führen wird und somit zu einem geringeren Ansteckungspotenzial. Homosexuelle Neigungen wurden hierbei allerdings außer Acht gelassen.

Diese geschlechterspezifische Regulierung führt nun dazu, dass Männer nur noch dreimal pro Woche ihrer Arbeit nachgehen können, die sie ansonsten fünf bis siebenmal die Woche erledigten. Ein klassisches Beispiel ist das Führen einer „Camioneta“, eines Geländewagens, der durch äußerst kreative Zusatzkonstruktionen in der Lage ist, die Anden-Eselspfade zu befahren und dabei die tägliche Ingwerernte von den kleinen Fincas abzuholen. Traditionell ist das in Peru „Männerarbeit“.

Das Pendant dazu ist das Waschen der Agrarprodukte – eine klassische „Frauenarbeit“. Der Ingwer wird von weiblicher Hand gereinigt und von männlicher Hand transportiert. Die Entlohnung der weiblichen Reinigungskräfte ist dabei weitaus geringer als die Entlohnung der männlichen Transporter. Folglich ergibt sich eine unterschiedliche Wertschätzung der weiblichen und männlichen Arbeitssphären. Dieses Phänomen kennen auch wir in Deutschland in ähnlicher Weise.

Nun können die Männer nur noch an drei Tagen in der Woche arbeiten. Der Transport muss aber weiterhin fünf bis sieben Tage die Woche erledigt werden. Das Gleiche gilt für die Frauen. Die einzig mögliche Lösung war, dass nun auch Frauen den Transport an Frauentagen und Männer das Waschen an Männertagen übernehmen. Und es funktioniert. Sicher schon längst gedacht – weit vor der Corona-Krise – aber nicht als durchsetzbar abgetan, ist es in dieser Zeit in Peru möglich, berufliche Geschlechterstereotype zu durchbrechen. Einfach so. Und das macht Hoffnung ­– auf eine bessere, weil freiere und solidarischere Zeit auch nach der Krise.



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